Die Dynamik des Systems: Wohlkalkuliert oder unaufhaltsam?
Das Kalkül der Provokation nutzen Unternehmen schon lange zu Marketingzwecken aus. Seit dem Social Media-Zeitalter wird das reaktionäre Lauffeuer der Empörung aber systematischer und ernster. Vor allem gut organisierte, digitale Protestgruppen formieren sich agil zu mächtigen Einheiten, die Sturm laufen.
Unternehmen fürchten und schätzen diese Dynamik des digitalen Systems zu gleichen Teilen: Auf der einen Seite drohen Boykott und Shitstorm- auf der anderen locken virale PR und die damit erhoffte Reichweite. Der Grat ist schmal. Die öffentliche Aufmerksamkeit ein schwer kalkulierbares Kapital. Nicht immer geht die Rechnung auf.
Ja niemandem zu nahe treten – oder gerade doch?
Was also darf man in der Werbung zeigen, sagen, kommunizieren? Wenn man gefällig sein möchte, dann gefällt man niemandem. Weshalb? Mit Eintönigkeit tritt man zwar niemandem auf den Schlipps, wenn man aber nur über Banalitäten – oder noch schlimmer – nur über sich selbst spricht, wird man mit Sicherheit keinen Blumentopf gewinnen. Und schon gar keine Aufmerksamkeit und Sympathie ernten.
Auf den emotionalen Impact kommt es an
Werbung mag eine künstliche Welt sein, sie funktioniert aber nach den Prämissen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Der Reality Check: Tauscht man sich mit anderen Menschen aus, redet man bekanntlich auch nicht nur über sich selbst, sondern über gemeinsame Themen, stellt Fragen, diskutiert, freut sich über die gemeinsame Wellenlänge – und mitunter über die Kontroverse, denn nur im Austausch lernt wird es interessant. In die Werbung übersetzt, bedeutet dies für die Inhalte spannender Kommunikation: Um im Gespräch zu bleiben braucht es relevante Themen, die den Gegenüber (be)treffen und so einen emotionalen Impact verursachen. Und ja, das sind Themen zu denen es mehr als eine Meinung und Darstellungsform gibt – Erwachsen werden (vgl. Mercedes “Grow up”), Körperschweiss (vgl. Hornbach “So riecht der Frühling.”) oder das Männerbild 2019 (vgl. Gillette “The Best Men Can Be.”).
Don’t feed the Troll…
Die Frage, nach der gesellschaftlichen Verantwortung ist dagegen eine harte Nuss. Sie erinnert an die immer wieder geführte Debatte im Journalismus: Wie weit darf Satire gehen? Welche Grenzen darf sie berühren und welche übertreten? In der Werbebranche bedeutet dies: Steckt nicht in der Aufregung das kommunikative Potenzial von Werbung? Aber zu welchem Preis? Möchten wir – langfristig nur noch – Werbung sehen, die die (moralischen) Grenzen immer weiter verschiebt und es standardmäßig dazu gehört, dass sich Unternehmen nach der Veröffentlichung dafür entschuldigen oder sogar distanzieren? Wird der Faux Pas immer mehr salonfähig und die Ausnahme zur Normalität?
…denn die Hungrigen lauern überall
Wann ist eine Kampagne erfolgreich? Platt gesagt, wenn Sie die Massen erreicht. In diesem Sinne ist es durchaus schwieriger geworden virale Kampagnen umzusetzen, denn die Zielgruppen sind so ausdifferenziert wie nie. Gleichzeitig ist es aber auch einfacher geworden Gruppen wie Rechtsradikale, Weltretter, Verschwörungstheoretiker, Dauernörgler, Meinungsmacher usw. zu instrumentalisieren und ihre Erregbarkeit ganz gezielt für die Verbreitung zu nutzen (siehe dazu unseren Lesetipp “Wie Unternehmen die rechte Empörungsmaschinerie geschickt für Werbung nutzen). Weshalb? Weil sich diese Gruppen sehr gut in den sozialen Netzwerken zusammenfinden und organisieren. Dadurch reagieren sie schneller und stärker.
Unterstützt man nun Radikalität, indem man das Empörungs-System ausnutzt? Wir denken: Nein. Auch wenn man in erster Instanz “die Ewiggestrigen” erreicht, so gibt es – gerade Dank dieser Schreihälse – einen Streueffekt, der dann zwangsläufig auch “die Richtigen” erreicht. Und im besten Fall entsteht dann eine sinnvolle Debatte über ein Thema und eben nicht nur Hate Speach.
Das Fazit: KEINE Gefahr durch Boykottaktionen und Shitstorms
Viele Studien gibt es nicht zu dem Thema “Schäden durch Shitstorms”. Die private Hochschule Macromedia veröffentlichte 2014 dazu eine Studie, welche keine Zusammenhänge zwischen digitaler Aufregung und wirtschaftlichen Schäden sowie Glaubwürdigkeitsverlust feststellte.
Das bedeutet, dass Unternehmen gerne auch mal mutiger kommunizieren dürfen und keine direkten Schäden befürchten müssen. Wir finden auch: mehr Mut für aussagekräftige Kampagnen, die auch mal polarisieren dürfen – und mehr Dialog durch relevante Themen – auch in der Werbung. Wie schnell sich die Wogen nach dem Edeka-Aufruhr wieder geglättet haben, kann man bei Google Trends sehen: Das digitale Gedächtnis hat keine hohe Halbwertszeit – der Sturm ist nach wenigen Tagen vorbei gezogen. Aber der nächste kommt bestimmt. Das Wetter bleibt wechselhaft.